ama la vida - liebe das Leben
"Ich habe bei den sogenannten ‚wilden‘ Völkern die erhabensten Begriffe von Gott, Tugend, Freundschaft… gefunden, in deren tiefe Wahrheit mich hinein zu denken mir nur gelang, wenn ich mich ganz von europäischen Anschauungen, zumal von Äusserlichkeiten, im Geiste losmachte." (Alexander von Humboldt)
Liebe Leserinnen und Leser,
am Ende dieses Jahres frage ich mich, ob ich mich in dieser Zeit wohl verändert habe. Vermutlich werde ich das erst nach meiner Rückkehr wissen, aber mir ist aufgefallen, dass sich mein Denken in Bezug auf mein Heimatland Deutschland verändert hat.
Ein Jahr in Ecuador ist eine lange Zeit. Eine Zeit, die sich von der eines Reisenden unterscheidet. Denn was anders ist, sind die Begegnungen und die Beziehungen, die im Laufe eines Jahres entstehen. "Woher kommst du? Was machst du hier in Ecuador?", das sind die ersten Fragen, die ich hier in der Regel höre und nach einer Antwort meinerseits folgt meist ein Staunen darüber, meine Familie ein ganzes Jahr lang zu verlassen, um aus dem "viel besseren Deutschland" in das "rückständige Ecuador" zu gehen und dort zu arbeiten. Die Leute hier finden es toll, dass ich einen Freiwilligendienst in ihrem Land leiste und ihr Land kennenlernen kann, von dem die meisten Ecuadorianer weniger gesehen haben als ich. Für die meisten ist der Gedanke, seine Familie für so lange Zeit zu verlassen, unvorstellbar. Das liegt vorallem daran, dass die Familie hier einen ganz anderen Stellenwert hat. Für gewöhnlich ziehen die Kinder erst dann aus, wenn sie heiraten und selbst eine Familie gründen wollen. Und häufig ziehen sie nur in eine andere Wohnung, bleiben aber im selben Haus wohnen.
Was mir in diesem Jahr bewusst geworden ist, ist dass die Gesellschaft in Ecuador ganz anders tickt, als die in Deutschland. Es herrscht ein ganz anderes Denken, ein Denken, das aus meinen Augen viel menschlicher und sinnvoller ist. In Deutschland leben wir in einer Gesellschaft, die viel Wert auf Regeln legt, die dem System folgt, die den Vorstellungen des Systems entspricht. In Ecuador hingegen wird einfach gelebt, und anstatt immer den Regeln zu folgen, wird hier einfach effizient gedacht. Das merkt man schon an den kleinsten Alltagssituationen, mir ist es vorallem im Straßenverkehr aufgefallen: Wenn hier eine Ampel rot ist, aber weit und breit kein Auto zu sehen ist, fährt man drüber (obwohl es gesetzlich natürlich verboten ist). Das würde sich in Deutschland niemand erlauben. Wenn die Straße frei ist, läuft der Fußgänger über die Straße, man wartet nicht etwa bis das grüne Männchen erscheint.
Es geschehen viele Dinge, die gegen das Gesetz verstoßen, aber nicht verfolgt werden. Davon gibt es natürlich auch Negativbeispiele, wie zum Beispiel die Läden, in denen grundsätzlich nur Raubkopien verkauft werden (im Preis von 1$ pro Film). Ich möchte also nicht sagen, dass ich das alles gut finde, aber es geht mir ums Prinzip.
Was ich hier in Ecuador erlebt habe, und in meinem letzten Eintrag auch schon erwähnt hatte, war die unglaubliche Großzügigkeit und Herzlichkeit der Menschen. Ich muss dazu sagen, dass sich folgende Geschehnisse nicht etwa auf alle Leute bzw. Orte verallgemeinern lassen. Als ich neulich eine Freiwillige im Regenwald besuchte, erlebte ich eine ganz andere Mentalität als jene, die ich bisher in der Stadt zu spüren bekam. Am Abend kam ich in der Kommune Kanambu an, und wir wollten eigentlich nur kurz bei einer Familie vorbeischauen, verbrachten im Endeffekt den ganzen Abend dort. Sofort wurde uns Chicha (ein Getränk aus Yuca) angeboten und nachdem wir uns eine Weile gut unterhalten hatten, forderte der Familienvater seine Frau dazu auf, etwas für uns zu kochen. Eine halbe Stunde später bekamen wir einen Teller Reis mit Nudeln und Soße. Später am Abend wurde uns dann der selbstgemachte Vanilleschnaps angeboten und da wir nicht unhöflich sein wollten, mussten wir auch davon einen guten Schluck verkraften. Es ist quasi eine unausgesprochene Regel, dass man solche Angebote nicht ausschlägt. Wir kannten uns nicht einen Tag und wurden mit solch einer unglaublichen Herzlichkeit empfangen, von einer Familie, die selbst in ärmlichen Verhälnissen lebt und nicht eine Sekunde zögerte, das Wenige was sie hat, mit uns zu teilen.
Ich habe mich gegenüber Deutschland nun sehr kritisch geäußert und möchte klarstellen, dass ich meine Heimat und meine Mitmenschen sehr gerne habe und es zu schätzen weiß, in Deutschland aufgewachsen zu sein. Das Problem ist, dass viele Menschen glauben, in Deutschland sei alles besser als in Ecuador, weil es uns in Deutschland wirtschaftlich besser geht. Aber in meinen Augen ist dieses Denken verkehrt. Auch wir, die "fortschrittliche Gesellschaft", können noch etwas von der Herzlichkeit, der Großzügigkeit und der Denkensweise anderer Kulturen, wie dieser in Ecuador, lernen.
"Indem wir die Einheit des Menschengeschlechts behaupten, widerstreben wir auch jeder unerfreulichen Annahme von höheren und niederen Menschenrassen. Es gibt bildsamere, höher gebildete, durch geistige Kultur veredelte, aber keine edleren Volksstämme. Alle sind gleichmäßig zur Freiheit bestimmt." (Alexander von Humboldt)
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